Ausdehnung und Reform

"Wir müssen alles abschaffen, was einem Vorrecht auch nur ähnlich sieht."

Woodrow Wilson
Botschaft an den Kongress vom 8. April 1913.

 

In dem knappen halben Jahrhundert zwischen zwei grossen Kriegen - dem amerikanischen Sezessionskrieg und dem ersten Weltkrieg - erreichten die Vereinigten Staaten von Amerika eine Stufe hoher Reife; der vorwiegend landwirtschaftliche Charakter der Wirtschaft wich nun einer weitgehenden Verstädterung - die Epoche der Kolonisation war zu Ende. Grosse Fabriken und Walzwerke, transkontinentale Eisenbahnen, blühende Städte und eine Konzentration des Grundeigentums gaben dem Land ein neues Gepräge, und in ihrem Gefolge kamen die Schattenseiten moderner Wirtschaftsentwicklung. Monopole traten auf, die Arbeitsbedingungen in den Fabriken waren schlecht, die Städte entwickelten sich so schnell, dass die grosse Masse weder angemessen untergebracht noch von der Verwaltung erreicht werden konnte, und die Produktion der Fabriken überstieg vielfach den vorhandenen Bedarf. Das amerikanische Volk und seine politischen Führer - Cleveland, Bryan, Theodore Roosevelt und Wilson - protestierten gegen diese Misstände und verlangten mit Nachdruck Reformen von hohem Idealismus im Entwurf und doch praktischem Realismus in der Durchführung, denn - das war ihr Leitgedanke - „die Gesetzgebung muss das Übel an der Wurzel packen." Die in der Reformepoche geleistete Arbeit trug auch tatsächlich dazu bei, den während der Ära der Ausdehnung eingedrungenen Übelständen wirksam Einhalt zu gebieten.

„Der Bürgerkrieg", heisst es bei einem amerikanischen Schriftsteller, „bedeutete einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Landes. Er brachte mit einem Schlag die Veränderungen ans Licht, die sich während der vorausgegangenen zwanzig bis dreissig Jahre angebahnt hatten..." Die Erfordernisse des Krieges hatten die industrielle Produktion ausserordentlich gesteigert und die volle Entfaltung einer Wirtschaftsform beschleunigt, die durch vorwiegenden Gebrauch von Eisen, Dampfmaschinen und elektrischer Energie, sowie durch den machtvollen Fortschritt von Naturwissenschaft und Erfindergeist gekennzeichnet war.

Bis 1860 waren 36 000 Patente vergeben worden, doch diese Zahl verblasst vor der Flut der späteren Erfindungen, denn von 1860 bis 1890 wurden 440 000 Patente erteilt, und im ersten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts erreichte ihre Zahl fast die Millionengrenze. Der Dynamo, der im Prinzip bereits 1831 entwickelt worden war, revolutionierte das Leben in Amerika bald nach 1880, als Thomas Edison und andere Erfinder ihn praktisch nutzbar machten; dank Samuel F.B. Morse, der 1844 die Telegraphie vervollkommnet hatte, waren weit voneinander abliegende Gegenden auf dem Kontinent binnen kurzer Zeit durch ein Netz von Telegraphenstangen und -drähten verbunden; 1876 hatte Alexander Graham Bell erstmals einen Telephonapparat öffentlich vorgeführt, und schon ein halbes Jahrhundert später gaben 16 Millionen Telephone Wirtschaft und Gesellschaft der Nation eine vorher unbekannte Intensität. Das Tempo des Geschäftslebens wurde noch weiter beschleunigt durch die Erfindung der Schreibmaschine (1867), der Addiermaschine (1888) und der Registrierkasse (1897) ; die Erfindung der Linotype-Setzmaschine (1886), die Rotationspresse und verbesserte Falzmaschinen ermöglichten nun den Druck von 240 000 achtseitigen Zeitungen pro Stunde; bald nach 1880 gaben Edisons Glühbirnen Millionen von Haushalten besseres, sichereres und billigeres Licht als je zuvor; Edison vervollkommnete auch den Phonographen und entwickelte in Zusammenarbeit mit George Eastman die Kinematographie, den Vorläufer des heutigen Films. Diese und zahlreiche andere praktische Anwendungen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse führten zu einer Steigerung der Produktivität auf nahezu allen Gebieten.

Gleichzeitig gewann die Hauptindustrie des Landes - die Eisen- und Stahlindustrie - unter dem Schutz hoher Zölle weiter an Boden. Ihr erster Standort war in der Nähe der Erzlager in den Staaten des Ostens gewesen; die Geologen entdeckten jedoch neue Eisenvorkommen im Westen und trugen dadurch zur Ausbreitung der Eisenindustrie auch nach dem Westen bei. Besonders wichtig waren in diesem Zusammenhang die Erzvorkommen der Mesabi-Hügelkette am Westufer des Oberen Sees, die sich bereits nach kurzer Zeit als eines der ergiebigsten Erzlager der Erde erweisen sollten. Ihr Eisen lag unmittelbar unter der Erdoberfläche und konnte leicht und billig geschürft werden, und da es in hohem Grade chemisch rein war, konnte man es mit Hilfe des neuen Bessemer- und des Siemens-Martin-Verfahrens zu hochwertigem Stahl veredeln und den Stahl für 35 Dollar je Tonne - gegenüber meist etwa 300 Dollar je Tonne zuvor - verkaufen.

Grosse Verdienste um die Erhöhung der Stahlproduktion erwarb sich vor allem Andrew Carnegie, einer der führenden Männer in der Geschichte dieses Industriezweiges. Er war als Zwölfjähriger aus Schottland nach Amerika eingewandert, hatte zunächst als Spuler in einer Baumwollspinnerei gearbeitet und war später in einem Telegraphenamt und schliesslich bei der Pennsylvania - Eisenbahngesellschaft angestellt worden. Schon vor seinem 30. Lebensjahr hatte er seine Ersparnisse klug und umsichtig investiert - von 1865 an in der Eisenindustrie - und hatte im Laufe weniger Jahre mehrere Gesellschaften, die eiserne Brücken, Eisenbahnschienen oder Lokomotiven herstellten, selbst organisiert oder war an ihnen beteiligt. Zehn Jahre später erbaute er am Monongahelafluss in Pennsylvania das damals grösste Stahlwerk Amerikas. Carnegies Unternehmen wuchs von Jahr zu Jahr; er brachte allmählich nicht nur weitere Stahlwerke, sondern auch Kokereien und Kohlenbergwerke, Eisenerzlager am Oberen See, eine ganze Dampferflotte auf den Grossen Seen, eine Hafenstadt am Eriesee und eine Zubringerbahn unter seine Kontrolle. Sein Unternehmen war eng mit einem Dutzend anderer Betriebe verflochten, und gab ihm so die Möglichkeit, sich günstige Geschäftsbedingungen mit den Eisenbahn- und Schiffahrtsgesellschaften zu sichern; er verfügte auch über genügend Kapital für den weiteren Ausbau und kannte keinen Mangel an Arbeitskräften. Noch nie zuvor hatte Amerika ein ähnliches Beispiel industrieller Expansion erlebt.

Die Geschichte Andrew Carnegies verkörpert in mancher Hinsicht die Geschichte des Unternehmertums in den Vereinigten Staaten. Carnegie beherrschte seinen Industriezweig lange Zeit, aber es gelang ihm nie, sich ein vollständiges Monopol über die für die Stahlerzeugung wichtigen Rohstoffe, Transportmittel und Industrieanlagen zu sichern, und in den neunziger Jahren setzten sich verschiedene Gesellschaften energisch gegen seine Vorrangstellung zur Wehr. Carnegie dachte zunächst daran, den Kampf mit der Konkurrenz aufzunehmen, weitere Gruben zu erwerben und seine wirtschaftliche Macht noch weiter auszudehnen; alt und müde geworden, fand er sich aber schliesslich doch dazu bereit, seine Unternehmen einer neuen Organisation einzugliedern, in der die wichtigsten Eisen- und Stahlwerke des ganzen Landes zusammengefasst werden sollten.

Die United States Steel Corporation (Amerikanische Stahlgesellschaft), die aus dieser Fusion im Jahre 1901 entstand, ist, ähnlich wie Carnegie, typisch für einen wirtschaftlichen Entwicklungsprozess, der sich dreissig Jahre lang vorbereitet hatte - den Zusammenschluss unabhängiger Industrieunternehmen zu Kartellen oder Trusts. Diese Tendenz, deren Anfänge in die Zeit des Sezessionskrieges zurückreichen, gewann in den siebziger Jahren ständig an Kraft, denn die Unternehmer erkannten, dass sie Produktion und Märkte kontrollieren konnten, wenn sich die konkurrierenden Firmen in einer einzigen Organisation zusammenfinden würden, und entwickelten in den „Corporations" und „Trusts" wirtschaftliche Organisationsformen, die in vieler Hinsicht den grossen Aufgaben der modernen Wirtschaft angemessen schienen. Gesellschaften dieser Art konnten sich riesige Kapitalien zunutze machen, denn sie reizten vor allem dadurch zu Investitionen, dass sie den Besitzern von Aktien und Obligationen laufende Einnahmen versprachen, aber die Aktionäre im Fall eines Konkurses nur bis zur Höhe ihrer Beteiligung haftbar machten. Zusammenschluss zu einer Gesellschaft sicherte den Einzelunternehmen darüber hinaus Existenz und sichere Kontrolle über die Wirtschaft. Ein Trust war ein Zusammenschluss von Gesellschaften, bei dem die Aktionäre ihre Aktien jeweils in die Hände von Treuhändern (Trustees) legten und sie mit der Wahrnehmung der Interessen aller Beteiligten betrauten. Diese Trusts ermöglichten Zusammenschlüsse grossen Stils, zentrale Leitung und Verwaltung sowie gemeinsame Auswertung der Patentrechte; ihre grossen Kapitalquellen steigerten ihre Expansionskraft und ihre Konkurrenzfähigkeit gegenüber ausländischen Unternehmen und ermöglichten es ihnen, den Arbeitern, die zu jener Zeit gerade erst anfingen, sich wirksam zu organisieren, harte Bedingungen zu diktieren, die Eisenbahnen zu günstigen Tarifvereinbarungen zu zwingen und ihren Einfluss in der Politik geltend zu machen. Eine der ersten und mächtigsten Gesellschaften war die Standard Oil Company; andere Trustgründungen und Zusammenschlüsse folgten rasch, so in der Speiseöl-, Blei-, Zucker-, Tabak- und Gummiindustrie. Energische Unternehmer steckten sich ganze Industrien als ihren künftigen Marktbereich ab: die Besitzer von vier grossen Fleischkonservenfabriken z. B., vor allem Philip Armour und Gustavus Swift, gründeten einen „Fleischtrust", und die Familie McCormick sicherte sich die Vorherrschaft im Mähmaschinengeschäft. Diese Tendenz kam deutlich in einer 1904 angestellten Untersuchung zum Ausdruck, die ans Licht brachte, dass über 5000 zuvor unabhängige Gesellschaften sich zu etwa 300 Industrie-Trusts zusammengeschlossen hatten.

Das Nervenzentrum dieser neuen industriellen Gesellschaftsordnung war die Stadt, in deren Bannkreis sich nun alle dynamischen Wirtschaftskräfte: die grossen Konzentrationen von Kapital, Handels- und Finanzinstituten, das Netz der Eisenbahnanlagen, die düsteren, rauchgeschwärzten Fabriken und ein gewaltiges Heer von Arbeitern und Angestellten zusammenfanden. Die Menschen strömten vom flachen Land und aus Übersee in die Dörfer, die Dörfer wuchsen zu Landstädten heran - und die Städtchen wurden fast im Handumdrehen zu Grosstädten! Noch im Jahre 1830 lebte nur einer von je fünfzehn Amerikanern in Gemeinden mit 8000 Einwohnern oder darüber; 1860 war es schon einer von je sechs, 1890 aber drei von je zehn Einwohnern der Vereinigten Staaten! 1860 gab es noch keine einzige Millionenstadt, doch schon dreissig Jahre später zählte New York 1,5 Millionen und Chicago und Philadelphia über eine Million Einwohner. Philadelphia und Baltimore verdoppelten in diesen drei Jahrzehnten ihre Einwohnerzahl, Kansas City und Detroit vervierfachten, Cleveland versechsfachte und Chicago verzehnfachte sie. Bei Ausbruch des Sezessionskrieges waren Minneapolis, Omaha und zahlreiche Gemeinden unbedeutende Flecken gewesen; 1890 hatte sich ihre Einwohnerzahl um mehr als das Fünfzigfache vermehrt.

So einschneidend diese Veränderungen auch waren, ihre Konsequenzen wurden zu jener Zeit nicht genügend gewürdigt, um voll im politischen Leben zum Ausdruck zu kommen, und obwohl das amerikanische Volk mit zahllosen Problemen zu ringen hatte, wurden nach den Worten eines namhaften Historikers „zwischen 1865 und 1897 kaum mehr als zwei oder drei Bundesgesetze erlassen, die einen Bürger interessieren könnten, für den die politische Geschichte nur dann wesentlich ist, wenn sich an ihren Ausdrucksformen Wandlungen des sozialen Gefüges - der Beziehungen von Mensch zu Mensch - ablesen lassen."

Grover Cleveland, ein Demokrat, der im Jahre 1884 zum Präsidenten gewählt worden war, besass als einziger Präsident der Zeit nach dem Bürgerkriege Verständnis für die Bedeutsamkeit und Richtung der Veränderungen, denen das ganze Land unterworfen war, und er allein bemühte sich, den so entstehenden Problemen nicht auszuweichen. Unter den zahlreichen Misständen bei den Eisenbahngesellschaften z. B., die nach Abhilfe verlangten, befand sich die besonders schädliche Festsetzung relativ hoher Frachtsätze für kleinere Kunden, der eine gleichzeitige Gewährung von Ermässigungen an grössere gegenüberstand; ausserdem verlangten verschiedene Eisenbahngesellschaften von manchen Kunden - ungeachtet der tatsächlichen Entfernungen - willkürlich höhere Frachtsätze nach bestimmten Zielbahnhöfen. Wo mehrere Frachtlinien miteinander in Wettbewerb standen, hielten sich die Frachten auf einer erträglichen Höhe; sie waren jedoch unglaublich überteuert, wo nur eine einzige Eisenbahnverbindung zwischen zwei Städten bestand. Infolgedessen kostete die Fracht zwischen Chicago und dem ungefähr 1300 Kilometer entfernten New York weniger als zwischen Chicago und Orten, die nur etwa 200 Kilometer weiter östlich lagen. Um dem Konkurrenzkampf aus dem Wege zu gehen, versuchten die Eisenbahngesellschaften auch, Pläne zu gemeinsamem Vorgehen zu entwerfen; sie griffen z. B. zu pooling (Bildung einer Interessengemeinschaft oder eines „Gewinnausgleichkartells"), d. h. die konkurrierenden Gesellschaften teilten sich nach einem feststehenden Schlüssel in die Frachtbeförderung und führten ihre Gewinne zur Verteilung an einen gemeinsamen Fonds ab. Solche Praktiken vertieften jedoch die allgemeine Empörung über die Eisenbahngesellschaften mit der Zeit in solchem Masse, dass die Einzelstaaten sich verschiedentlich um ihre Regelung bemühten. Ihre Versuche führten zu einer gewissen Verbesserung, aber das Problem war doch seinem Wesen nach ein Problem des ganzen Landes und verlangte daher das Eingreifen des Kongresses. So kam es schliesslich zum Erlass des Interstate Commerce Act, eines „Gesetzes über den Verkehr zwischen den (Einzel-) Staaten", das 1887 von Präsident Cleveland unterzeichnet wurde. Es untersagte überhohe Tarife, Interessengemeinschaften, Sonderrabatte und unterschiedliche Kundenbehandlung und sah die Bildung einer Binnenverkehrskommission, der Interstate Commerce Commission, vor, die für die Einhaltung des Gesetzes, die Überwachung der Eisenbahntarife und die Verhinderung von Übergriffen verantwortlich sein sollte. Eine durchgreifende Regelung des Eisenbahnwesens erfolgte jedoch erst 1906 mit Erlass des Hepburn Act.

Cleveland war auch ein entschiedener Verfechter einer Zollreform. Die bestehenden hohen Zölle, die während des Krieges ursprünglich als Schutzmassnahmen eingeführt worden waren, waren mit der Zeit zu einem Bestandteil der Bundespolitik geworden; Präsident Cleveland hielt sie jedoch für schädlich und schrieb ihnen die Hauptschuld an der lästigen Steigerung der Lebenshaltungskosten und der raschen Entwicklung der Trusts zu. Nachdem die Zölle in den politischen Auseinandersetzungen lange Jahre hindurch nicht die geringste Rolle gespielt hatten, verlangten die Demokraten 1880 einen „reinen Finanzzoll" und riefen eine wachsende Bewegung zur Zollreform ins Leben. Cleveland schlug alle Warnungen, das heikle Thema nicht zu berühren, in den Wind und schreckte in seiner Jahresbotschaft von 1887 das amerikanische Volk aus der Ruhe auf, als er die phantastischen Ausmasse anprangerte, die der Schutz der amerikanischen Industrie gegen die ausländische Konkurrenz angenommen hatte.

Die Diskussionen der nächsten Wahlkampagne für die Präsidentschaft kreisten ausschliesslich um das Zollproblem, und der republikanische Kandidat Benjamin Harrison, der sich für Beibehaltung der Schutzzölle eingesetzt hatte, trug den Sieg davon. Seine Regierung erfüllte die Versprechungen des Wahlfeldzuges durch neue gesetzgeberische Massnahmen und erliess im Jahre 1890 das „McKinley-Zollgesetz", das nicht nur die bereits bestehenden Industriezweige zu schützen, sondern auch Neugründungen zu fördern und sogar neue Industriezweige durch Sperrzölle ins Leben zu rufen suchte. Die im allgemeinen hohen Zollsätze des neuen Tarifs trieben jedoch sehr rasch die Kleinhandelspreise in die Höhe, und schon nach kurzer Zeit herrschte weitverbreitete Unzufriedenheit.

Um dieselbe Zeit traten die Trusts in zunehmendem Masse in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Sozialreformer wie Henry George und Edward Bellamy richteten in den achtziger Jahren scharfe Angriffe gegen sie und erhoben die persönliche Abneigung gegen die Mammutgesellschaften auf das Niveau eines wichtigen politischen Problems. Das „Sherman-Antitrust-Gesetz" (1890 erlassen), das aus dieser Bewegung hervorging und in erster Linie die Monopole zu brechen unternahm, untersagte alle den Handel zwischen den Einzelstaaten einschränkenden Abreden und enthielt eine Reihe von Ausführungs-bestimmungen und einschneidenden Strafandrohungen; da es in allgemeinen und unbestimmten Wendungen gehalten war, war jedoch in der ersten Zeit nach seiner Verkündung von seiner Wirkung zunächst wenig zu spüren.

Trotz dieser zukunftsträchtigen Anfänge brachte das politische Leben vom Ende des Sezessionskrieges bis zur Jahrhundertwende im allgemeinen wenig wirkliche Leistungen hervor. Die Aufgaben, die das amerikanische Volk in diesen Jahren zur Anspannung aller Kräfte zwangen, waren aus anderen Lebensgebieten erwachsen. Dies kommt nirgends klarer zum Ausdruck als in der Geschichte des amerikanischen Westens. Noch 1865 war die Kette der frontier Siedlungen im grossen und ganzen auf die Westgrenzen der Mississippi-Anliegerstaaten (einschliesslich der nach Westen vorspringenden Teile von Kansas und Nebraska) beschränkt gewesen; westwärts dieses schmalen, spärlich mit Farmen durchsetzten Saumes lag noch viel unbesiedeltes Land, und dahinter erstreckten sich weite, grenzenlose Prärien, die schliesslich in die Artemesia-Heiden im Vorland des grossen Felsengebirges übergingen. Daran schlossen sich in einer Ausdehnung von rund 1600 Kilometer die gewaltigen Bergketten an, die vielenorts reiche Vorkommen von Silber, Gold und anderen Metallen bargen; wo das Gebirge dann gegen den Pazifik hin abfiel, dehnten sich erneut Ebenen und Wüstenstriche, denen nur die Wälder im Hügelland der Küste und schliesslich das Meer Einhalt geboten. Dieses ganze weite Binnenland, von den besiedelten Gebieten Kaliforniens und einigen zerstreuten Aussenposten abgesehen, war 1865 lediglich von Indianern bevölkert; ein Vierteljahrhundert später war der ganze Raum jedoch bereits in Staaten und Territorien untergeteilt, eine Entwicklung, die vor allem durch das Heimstättengesetz von 1862 gefördert worden war, das allen Bürgern, die Land zu besiedeln und urbar zu machen versprachen, 64 Hektar Farmland unentgeltlich zusicherte und bis zum Jahre 1880 den Übergang von etwa 22,6 Millionen Hektar Land in privates Eigentum ermöglichte. Die Indianerkriege waren zu Ende; Bergleute hatten den ganzen Gebirgsstrich erkundet, Stollen in die Tiefe getrieben und kleine Gemeinwesen in Nevada, Montana und Kolorado gegründet; Viehzüchter machten sich die unendlichen Grasflächen zunutze und sicherten sich Ansprüche auf das ganze grosse Gebiet, das sich von Texas bis zum oberen Missouri erstreckt; Schafzüchter hatten den Weg in die Täler und zu den Hängen der Gebirge gefunden, und am Ende strömten Farmer in die Ebenen und Täler nach und schlossen die Lücke zwischen dem Osten und dem Westen. Um das Jahr 1890 war die frontier verschwunden; fast sechs Millionen Menschen bebauten nun den Boden, wo noch zwei Jahrzehnte zuvor Bisonherden geweidet hatten.

Die Besiedlung des Landes wurde durch die Eisenbahnen erheblich beschleunigt. Schon 1862 hatte der Kongress die Ermächtigung zur Gründung der Union Pacific Railroad gegeben, die ihre Schienenstränge von Council Bluffs in Iowa nach Westen vortrieb, während die Gleisanlagen der Central Pacific Railroad zu gleicher Zeit von Sacramento in Kalifornien aus nach Osten vordrangen, um die der Union Pacific Railroad an einem noch unbestimmten Punkte zu schneiden. Das gesamte Land verfolgte gespannt die Arbeit an den beiden sich stetig nähernden Schienensträngen: sie trafen sich schliesslich am 10. Mai 1869 bei Promontory Point in Utah und verkürzten so die mühsame Reise vom Atlantik zum Pazifik, die bisher vier Wochen gedauert hatte, auf einen Bruchteil dieser Zeit. Das Netz der Überlandeisenbahnen wurde ständig erweitert, und im Jahre 1884 verbanden vier grosse Strecken das mittlere Mississippital mit der Pazifikküste.

Die erste grosse Wanderungswelle nach dem Fernen Westen war in die Gebirge gespült worden. 1848 war Gold in Kalifornien, 1858 in Kolorado und Nevada entdeckt worden, Montana und Wyoming folgten in den sechziger Jahren und die Schwarzen Berge im Gebiet der (späteren) beiden Dakotas in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Überall in diesen Gebieten waren es zuerst die Bergleute, die das Land erschlossen, Gemeinden bildeten und die Grundlage für feste Ansiedlungen schufen; doch noch während sie ihre Stollen in die Berge trieben, nahmen einige Ansiedler die Gelegenheit zu Ackerbau und Viehzucht wahr. Einige wenige Ortschaften lebten auch nach der Gründungsperiode fast ausschliesslieh vom Bergbau, aber Weideflächen und Ackerboden erwiesen sich schliesslich doch als der wahre Reichtum der Staaten Montana, Kolorado, Wyoming, Idaho und selbst Kaliforniens.

In Texas war die Viehzucht schon lange als wichtiger Erwerbszweig heimisch gewesen, und bald nach Kriegsende trieben unternehmende Männer ihre Texas-Langhornrinder nach Norden quer über die noch uneingefriedeten Staatsländereien. Auf ihrem Wege zu den Verladeplätzen fanden die Rinder gute Weide und trafen mit grösserem Gewicht und in besserem Futterzustand an ihrem Ziel in Kansas ein, als sie Texas verlassen hatten. Bald wurde der „lange Auftrieb" in diesem Gebiete die Regel, und grosse Rinderherden bewegten sich meilenweit den Richtpfaden entlang nach Norden. Die Viehzucht fand rasch auch in den Gebieten jenseits des Missouri Eingang, und so entstanden in Kolorado, Wyoming, Kansas, Nebraska und im Dakota-Territorium ausgedehnte Rinderfarmen. Die Schlachthöfe und Fleischverarbeitungsbetriebe wiederum, die im Zusammenhang damit aus dem Boden schossen, brachten die Städte des Westens zur Blüte.

Die grossen Viehfarmen gaben dem Leben eine neue charakteristische Färbung und schufen die romantische Figur des „Cowboy". „Wir führten ein freies und verwegenes Leben mit Pferd und Büchse", schrieb Theodore Roosevelt, der 25. Präsident der Vereinigten Staaten, in Erinnerung an seine eigenen Erlebnisse in Dakota; „wir arbeiteten im Hochsommer unter der sengenden Sonne, wenn die weiten Ebenen in der Hitze flimmerten und schimmerten, und waren mit der bitteren Kälte vertraut, die uns zur Zeit des Austriebs im Spätherbst überfiel, wenn wir des Nachts die Herden umritten ... und doch, es war das Leben selbst, das kühn in unseren Adern pulsierte, und wir genossen das Hochgefühl der Arbeit und die Lust am Leben."

Insgesamt wurden in der Zeit von 1866 bis 1888 rund sechs Millionen Rinder von Texas zur Überwinterung nach den Hochebenen von Kolorado, Wyoming und Montana getrieben. 1885 war der Höhepunkt erreicht; nach diesem Zeitpunkt war die Prärie bereits zu stark abgeweidet, um für den langen Auftrieb zu genügen, und zu dicht von den immer zahlreicheren Eisenbahnen durchquert. So folgten den Viehzüchtern alsbald die grossen knarrenden Planwagen der Farmer, die „Prärie-Schooner", und brachten Frauen und Kinder sowie Zugpferde, Kühe und Schweine ins Land; sie massen die ihnen unter dem Heimstättengesetz zugewiesenen Felder aus, friedeten sie mit Stacheldraht ein und vertrieben dadurch die Viehzüchter aus einem Gebiet, auf das sie kein Anrecht gehabt hatten. Während der zwei aussergewöhnlich harten Winter der Jahre 1886 und 1887 gingen auch viele Herden auf den offenen Weideflächen an der Eiseskälte zu Grunde, und so wich der romantische „Wilde Westen" schliesslich festen geschlossenen Siedlungen und Weizen-, Mais- und Haferfeldern.

Im Westen - wie im ganzen Lande - blieb der Ackerbau die vorherrschende Erwerbsgrundlage, und trotz der mit Riesenschritten sich ausbreitenden Industrie waren die meisten Einwohner Amerikas in der Landwirtschaft beschäftigt. Doch genau wie sich die Industrie erst in den Jahrzehnten nach Beendigung des Bürgerkrieges voll entwickelt hatte, so erlebte nun auch die Landwirtschaft eine grosse Umwälzung - die Einführung neuer landwirtschaftlicher Maschinen und den Übergang von der vorwiegend für die Deckung des eigenen Bedarfs arbeitenden auf die kommerzielle Landwirtschaft. Die folgenden Zahlen bringen diese Entwicklung klar zum Ausdruck: in den fünfzig Jahren zwischen 1860 und 1910 verdreifachte sich die Zahl der Farmen in den Vereinigten Staaten und stieg von zwei Millionen auf sechs Millionen; die landwirtschaftlich genutzte Fläche verdoppelte sich und stieg von 161,7 Millionen auf 352,5 Millionen Hektar; die Weizenerzeugung stieg von 4,7 Millionen auf 17,4 Millionen Tonnen, die Maiserzeugung von 21,3 Millionen auf 73,4 Millionen Tonnen, die Baumwollerzeugung schliesslich von 0,9 Millionen auf 2,6 Millionen Tonnen; in den dreissig Jahren nach 1860 wurde mehr Land unter den Pflug genommen als in der gesamten voraufgegangenen Geschichte der Vereinigten Staaten, und im gleichen Abschnitt stieg die Bevölkerung des Landes auf über das Doppelte. Der grösste Zuwachs ergab sich zwar in den Städten; der amerikanische Farmer erzeugte jedoch genügend Getreide, Wolle und Baumwolle sowie Rind- und Schweinefleisch, um nicht nur die werktätige Bevölkerung der USA zu versorgen, sondern auch einen ständig wachsenden Überschuss zu exportieren.

Diese ausserordentliche Leistung war zum grössten Teil durch die Ausdehnung nach dem Westen, aber auch durch Nutzbarmachung neuer Maschinen und wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Farmbewirtschaftung möglich geworden. Um 1800 konnte der Farmer kaum hoffen, mit seiner Sense mehr als einen Viertelhektar Weizen pro Tag zu mähen; dreissig Jahre später mochte er mit seiner Korbsense fast einen Hektar bewältigen; 1840 aber vollbrachte Cyrus McCormick das Wunder, mit einer seltsamen Maschine, an deren Vervollkommnung er nahezu ein Jahrzehnt gearbeitet hatte, zwei bis zweieinhalb Hektar an einem Tage zu mähen! Er sah die künftige Entwicklung voraus, zog nach Westen in die junge Präriestadt Chicago und gründete dort eine Fabrik, die 1860 bereits eine Viertelmillion Mähmaschinen erzeugt hatte.

Weitere Maschinen wurden in rascher Folge entwickelt, so der automatische Binder, die Dreschmaschine und der Mähdrescher; auf praktisch allen Gebieten kamen Maschinen dem Farmer zu Hilfe: Maispflanz- und Maisschneidemaschinen, Maisdresch- und Maisschälmaschinen, Zentrifugen, Düngerbreit- und Kartoffellegemaschinen, Heutrockner, Brutmaschinen und Hunderte von anderen Erfindungen erleichterten die Arbeit des Farmers und erhöhten die Produktivität seiner Farm. Die Gebiete im Westen nahmen den grössten Teil der neuen Ernte- und Dreschmaschinen sowie Traktoren auf, denn die Farmen im Osten mit ihrer gemischten Landwirtschaft waren zu klein, als dass sich die Anschaffung teurer Maschinen gelohnt hätte, und Baumwolle und Tabak im Süden eigneten sich zunächst wenig für maschinelle Anbaumethoden.

Die Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse erwies sich als ebenso wichtig für die Revolutionierung der Landwirtschaft wie die Mechanisierung. Durch das Morrill Land-Grant College-Gesetz von 1862 bewilligte der Kongress aus öffentlichem Besitz jedem einzelnen Staat Liegenschaften für die Schaffung landwirtschaftlicher und technischer Fachschulen, die als Erziehungs- und Forschungsinstitute dienen sollten. Später stellte der Kongress Mittel für die Ein-richtung landwirtschaftlicher Versuchsstationen im ganzen Lande zur Verfügung und bewilligte auch dem Landwirtschaftsministerium des Bundes eigene Mittel für Forschungszwecke, sodass zu Beginn des neuen Jahrhunderts in ganz Amerika zahlreiche Wissenschaftler an landwirtschaftlichen Forschungsprojekten arbeiteten.

Einer dieser Männer war Mark Carleton, der im Auftrag des Landwirtschaftsministeriums Russland bereiste, wo er eine besonders rost- und dürrebeständige Winterweizensorte entdeckte und sie nach Amerika einführte. Mehr als die Hälfte der gesamten Weizenernte der Vereinigten Staaten besteht heute aus dieser Sorte. Die Beiträge anderer Experten zur amerikanischen Landwirtschaft wirkten sich auf die Dauer kaum weniger bedeutend ans: Marion Dorset z.B. fand Mittel gegen die gefürchtete Schweinepest, George Mohler gegen die Gefahren der Maul- und Klauenseuche; einer der Forscher brachte die Mohrenhirse ans Nordafrika, ein anderer führte aus Turkestan das gelbblühende Alfalfa-Gras ein; Luther Burbank züchtete in Kalifornien Dutzende neuer Obst- und Gemüsesorten, Stephen Babcock erfand in Wisconsin eine Methode zur Bestimmung des Fettgehalts der Milch, und der grosse Wissenschaftler George Washington Carver, ein Neger, entdeckte am Tuskegee-Institut in Alabama Hunderte von neuen Verwendungsmöglichkeiten für Erdnüsse, Süsskartoffeln und Sojabohnen.

Trotz dieser Fortschritte mussten die amerikanischen Farmer im 19. Jahrhundert wiederholt schwere Krisen überwinden, ja, am Ende eines Jahrhunderts grösster landwirtschaftlicher Expansion war die schwierige Lage der Farmer zu einem der wichtigsten innenpolitischen Probleme geworden. Unter den verschiedenen tieferen Ursachen, die dieser Krise zugrunde lagen, sind vor allem Erschöpfung des Bodens, Witterungsunbilden, gewisse Einseitigkeiten in der Produktion, der Rückgang der Produktion für den eigenen Bedarf und das Fehlen angemessenen gesetzlichen Schutzes und staatlicher Hilfe zu nennen. So war beispielsweise der Boden der Südstaaten im Laufe der Zeit durch den Tabak- und Baumwollanbau erschöpft worden, während das Land im Westen und auf den grossen Ebenen von Erosion, Wirbelstürmen und Insektenplagen heimgesucht war. Auch die rasche Mechanisierung der Landwirtschaft im Westen des Mississippi hatte sich nicht als reiner Segen erwiesen. Sie hatte zahlreiche Farmer dazu verführt, ihren Landbesitz übermässig zu erweitern und Stapelerzeugnisse anzukaufen, sie hatte Grossfarmern einen eindeutigen Vorteil gegenüber den kleineren eingeräumt und damit die Entwicklung des Pächterwesens und extensiver Bewirtschaftungsmethoden beschleunigt. Die daraus sich ergebenden Probleme sollten lange Zeit ungelöst bleiben, bis viele Jahre später moderne Bodenkonservierungsmassnahmen in weiteren Kreisen Eingang fanden.

Noch verwickelter, wenn auch leichter durch geschickte Massnahmen zu beheben, war die Preisfrage. Der Farmer verkaufte seine Erzeugnisse auf dem Weltmarkt im freien Wettbewerb, erwarb jedoch die Dinge des täglichen Bedarfs, Arbeitsgerät und Haushaltwaren auf einem gegen jegliche Konkurrenz geschützten Markt; der Preis, den er für seine Mähmaschine, für Kunstdünger und Stacheldraht bezahlen musste, wurde von Trusts bestimmt, die ihrerseits wieder durch einen Schutzzoll gegen ausländische Konkurrenz gedeckt wurden. Von 1870 bis 1890 fielen die Preise für die meisten landwirtschaftlichen Erzeugnisse in unregelmässigen Intervallen, sodass sich der Wert der amerikanischen landwirtschaftlichen Produktion insgesamt nur um eine halbe Million Dollar erhöhte, während der Wert der industriellen Produktion im gleichen Zeitraum um insgesamt sechs Milliarden Dollar stieg.

Mangel an Gleichgewicht in der Wirtschaft führte zur Bildung von Farmer-Verbänden, in denen die gemeinsamen Nöte erörtert und wirksame Vorschläge zu ihrer Abhilfe ausgearbeitet werden konnten. Sie folgten darin zumeist dem Vorbild der im Jahre 1867 entstandenen „Grange"-Organisation, die nach Ablauf weniger Jahre in fast jedem Staate Fuss gefasst hatte, und deren Gesamtmitgliederzahl die Dreiviertelmillionengrenze überschritt. Diese Gruppen waren ursprünglich in erster Linie als soziale Organisationen geplant gewesen, die den Farmer aus seiner Isolierung befreien sollten; Geschäft und Politik liessen sich jedoch nicht künstlich von den Diskussionen fernhalten, den Reden folgten Taten, und bald gründeten viele der „Granges" Verkaufsgenossenschaften, genossenschaftliche Warenhäuser und sogar genossenschaftlich geleitete Fabriken. In verschiedenen Staaten des Mittleren Westens wählten sie sogar Abgeordnete in die Parlamente und erwirkten Gesetze zur Beaufsichtigung der Eisenbahngesellschaften und Lagerhäuser. Zahlreiche von den „Granges" gegründete Geschäftsunternehmen brachen jedoch zusammen, und als gegen Ende der siebziger Jahre eine Periode wirtschaftlichen Aufschwungs für die Landwirtschaft einsetzte, verloren die „Granges" rasch an Bedeutung. Die Bewegung, die sie eingeleitet hatten, erlebte später, gegen Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre, eine Wiedergeburt in den Farmerbünden (Farmers' Alliances), denn die schweren Zeiten waren wieder zurückgekehrt, eine Dürreperiode hatte die grossen Ebenen ausgedörrt, und die Weizen- und Baumwollpreise waren tief gesunken. Unter dem Einfluss dieser Ereignisse breitete sich die Bewegung der Farmerbünde rasch aus und zählte um das Jahr 1890 nahezu zwei Millionen Mitglieder. Sie führten ein grossangelegtes Fortbildungsprogramm durch und verlangten auch energisch nach politischen Reformen. Es dauerte nicht lange, da hatten sich die Farmerbünde in eine äusserst aktive politische Partei verwandelt und standen unter dem Namen The Populists in scharfem Gegensatz zu den traditionellen Parteien der Demokraten und Republikaner.

Die fieberhafte Begeisterung für diese Volkspartei verbreitete sich wie ein Lauffeuer über Prärien und Baumwollplantagen - ein in der amerikanischen Politik bis dahin einmaliger Vorgang: nach einem harten Arbeitstag auf den Feldern schirrten die Farmer ein Pferd vor den Wagen und fuhren mit Weib und Kind zum Versammlungshaus, wo sie zu den leidenschaftlichen Reden ihrer Wortführer Beifall klatschten. Die Wahlen des Jahres 1890 brachten die neue Partei in einem Dutzend Staaten im Süden und Westen an die Macht, und rund zwanzig Senatoren und Abgeordnete aus ihren Reihen zogen in den Kongress ein. Von diesem Erfolg angefeuert, entwarfen die Populisten ein fortschrittliches politisches Programm, das ausgedehnte Reformen forderte, so unter anderem eine Einkommensteuer, ein für den ganzen Bund einheitliches Darlehenssystem für Farmer, Überführung der Eisenbahnen in Staatsbesitz, den Achtstundentag und eine Vergrösserung des Hartgeldumlaufes durch freie und unbeschränkte Ausgabe von Silbermünzen.

Bei den Präsidentschaftswahlen von 1892 stellten die Populisten ihre Stärke in den Staaten des Westens und Südens erneut eindrucksvoll unter Beweis. Über eine Million Stimmen wurden für ihren Präsidentschaftskandidaten abgegeben; der demokratische Kandidat Grover Cleveland aber trug dennoch den Sieg davon. Vier Jahre später hatte sich die dynamische Volkspartei nahezu überall mit der Demokratischen Partei verschmolzen, deren führende Persönlichkeiten sich nun unter dem Einfluss der Populisten anschickten, die Währungsfrage in den Mittelpunkt ihrer Innenpolitik zu rücken.

Die Vereinigten Staaten hatten von ihrer Gründung an eine bimetallische Währung besessen, d.h. die Regierung war bereit, alles dem Münzamt zugeführte Gold oder Silber in Dollars auszuprägen. Im Jahre 1837 hatte der Kongress eine Münzreform verfügt und den Standard-Silberdollar von der Liste der offiziellen amerikanischen Münzen gestrichen. Zunächst hatte man diesem Gesetz nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt, da die Silberbestände sehr gering waren, und tatsächlich waren vierzig Jahre lang keine Silberdollar mehr im Verkehr gewesen. Diese Situation änderte sich jedoch über Nacht, als in den Gebirgsstaaten des Westens neue Silbervorkommen entdeckt wurden, und zu gleicher Zeit verschiedene europäische Länder ihre Silbermünzen aus dem Verkehr zogen. Ein erhebliches Überangebot an Silber war die Folge.

Amerika befand sich zu jenem Zeitpunkt in einer Wirtschaftskrise, und die Vertreter der ländlichen Bevölkerung des Westens und Südens und einiger Arbeiterverbände in den Industriestädten des Ostens, überzeugt, dass ihre Not sich zum Teil aus einer Verknappung des in Umlauf befindlichen Geldes erklärte, verlangten die Rückkehr zur unbegrenzten Ausprägung von Silbermünzen. Sie erwarteten, dass eine Vermehrung des im Umlauf befindlichen Geldes indirekt eine Erhöhung der Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse und gleichzeitig eine Erhöhung der Industrielöhne mit sich bringen werde, und wiesen darauf hin, dass auch Schulden dann rascher getilgt werden könnten. Die konservativen Kreise waren dagegen überzeugt, dass eine solche Politik zu einer Finanzkatastrophe führen werde, dass man einer einmal in Gang gekommenen Inflation nicht mehr Einhalt gebieten könne und dass die Regierung dadurch Bankrott erleiden werde. Nur der Goldstandard, so behaupteten sie, sichere stabile Verhältnisse.

Die „Silberpartei" - Demokraten und frühere Populisten - fand ihren Führer in William Jennings Bryan aus dem Staate Nebraska und stellte ihn als Präsidentschaftskandidaten für das Jahr 1896 auf. Bryan, der über eine gute äussere Erscheinung verfügte und ein hinreissender Redner war, nahm Millionen von Amerikanern für sich ein; seine Partei war jedoch in sich gespalten, und seine Gegner waren stark. Der einzige Trumpf, den die Demokraten hatten - es war Bryans Persönlichkeit - reichte nicht aus, und William McKinley ging mit einer Mehrheit von über einer halben Million Stimmen als Sieger aus der Wahl hervor. Bryans Wahlfeldzug hatte sich jedoch dem Bewusstsein des Volkes tief eingeprägt, und die meisten Programmpunkte der Populisten und der landwirtschaftlichen Gruppe in der Demokratischen Partei - mit Ausnahme der Münzpolitik - haben ihren Niederschlag in der amerikanischen Gesetzgebung gefunden.

Diese Wahlkampagne legte ein eindeutiges Zeugnis dafür ab, dass die Union seit Beendigung des Bürgerkrieges eine grosse Festigkeit erlangt hatte, denn obwohl die Not der Farmer ebenso gross war wie zuvor die der Sklavenhalter, war doch von einer „Nichtigkeitserklärung" bestimmter Bundesgesetze oder gar einer Sezession nicht die Rede. Diese Einigkeit der Nation bewies sich auch deutlich, als das Land im Jahre 1898 in eine Auseinandersetzung mit Spanien gestürzt wurde. Spanien hatte aus der Unabhängigkeitsbewegung seiner wichtigsten Kolonien in der westlichen Hemisphäre zu Beginn des Jahrhunderts nichts gelernt und übte noch 1895 eine unverändert despotische Herrschaft auf der Insel Kuba aus, die einen blühenden Handel mit den Vereinigten Staaten unterhielt. Im Jahre 1895 machte sich die wachsende Unzufriedenheit der Kubaner in einem Unabhängigkeitskriege Luft, und da die Vereinigten Staaten von altersher grossen Anteil an dem Kampf der Ibero-Amerikaner zu nehmen gewohnt waren, verfolgte man dort den Verlauf der Revolution mit wachsender Besorgnis. Präsident Cleveland war fest entschlossen, sich nicht in einen Krieg hineintreiben zu lassen, und scheute keine Mühe, die Neutralität der Vereinigten Staaten zu wahren. Drei Jahre später jedoch - in der Amtszeit des Präsidenten McKinley - wurde das amerikanische Kriegsschiff Maine im Hafen von Habana, wo es friedlich vor Anker lag, durch eine Explosion zerstört; 260 Mann der Besatzung gingen dabei zugrunde. Das Ereignis löste eine Welle von Erbitterung und Patriotismus in den USA aus, und McKinley, der anfangs den Frieden zu bewahren versucht hatte, fand sich nach Ablauf weniger Monate, als er die Nutzlosigkeit längeren Zögerns einsah, bereit, ein bewaffnetes Eingreifen zu empfehlen.

Die eigentlichen Kampfhandlungen dauerten nur vier Monate und kamen zu einem raschen und entscheidenden Abschluss, ohne dass die Vereinigten Staaten eine einzige nennenswerte Niederlage erlitten hätten. Eine Woche nach der Kriegserklärung nahm Kommodore George Dewey von Hongkong aus mit einem Verband von sechs Kriegsschiffen Kurs auf die Philippinen, um - so lauteten seine Befehle - die dort stationierte spanische Flotte aus amerikanischen Gewässern herauszuhalten. Er passierte die Küstenbatterien der Bucht von Manila kurz vor Morgengrauen und hatte bereits um die Mittagszeit ohne irgendwelche eigenen Verluste die gesamte spanische Flotte vernichtet! Inzwischen waren auf Kuba in der Nähe von Santiago amerikanische Truppen in Stärke eines Armeekorps gelandet, führten eine Anzahl rasch aufeinanderfolgender siegreicher Gefechte und belegten den Hafen mit Feuer. Vier spanische Panzerkreuzer machten daraufhin einen Ausfall aus der Bucht von Santiago und waren nach wenigen Stunden nur noch zerfetzte Wracks.

Die Nachricht vom Fall der Stadt Santiago, die an einem heissen Julitage in den USA eintraf, löste freudigen Jubel aus; die Fabriksirenen heulten, das Volk, von Boston bis nach San Francisco, schwenkte Fahnen, und die Zeitungen entsandten in grösster Eile Korrespondenten nach Kuba und auf die Philippinen und feierten den Ruhm der neuen Nationalhelden in den höchsten Tönen. Die Helden des Tages waren besonders George Dewey, der Sieger von Manila, und Theodore Roosevelt, der Führer der sogenannten Rough Riders (Rauhreiter), eines freiwilligen Kavallerieregiments, das er für den Einsatz auf Kuba angeworben hatte. Bald darauf bat Spanien um Frieden, und am 10. Dezember 1898 wurde der Friedensvertrag unterzeichnet. Spanien trat Kuba an die Vereinigten Staaten ab, die es provisorisch (bis zur Erteilung der vollen Unabhängigkeit) besetzt halten sollten; anstelle einer Kriegsentschädigung trat Spanien weiterhin die Inseln Puerto Rico und Guam und schliesslich - für die Summe von zwanzig Millionen Dollar - die Philippinen ab.

Von ihrer neuen Position auf den Philippinen erhofften die Vereinigten Staaten die Anknüpfung reger Handelsbeziehungen mit China. Nach Chinas Niederlage im chinesisch-japanischen Kriege von 1894/5 hatten verschiedene europäische Staaten auf chinesischem Gebiet Marinestützpunkte erworben, Gebiete gepachtet und Einflussphären in China abgegrenzt und sich nicht nur Handelsmonopole, sondern in der Regel auch das alleinige Recht auf die Finanzierung von Eisenbahn- und Bergbauprojekten in der Umgebung ihrer Schutzgebiete gesichert. Die amerikanische Regierung hatte bis zu diesem Zeitpunkt in diplomatischen Beziehungen mit dem Fernen Osten stets darauf bestanden, dass allen Ländern die gleichen Rechte eingeräumt würden. Dieses Prinzip konnte nun nur noch durch entschiedenes Handeln aufrecht erhalten werden, und 1899 richtete Aussenminister John Hay ein Rundschreiben an alle beteiligten Mächte, in dem der Grundsatz der „Offenen Tür" in China (d.h. gleicher Handelsmöglichkeiten, gleicher Zölle, Hafengebühren und Eisenbahntarife für alle Länder) vertreten wurde. Keine der interessierten Mächte gab zwar den Grundsätzen des amerikanischen Aussenministers ihre formelle, bindende Zustimmung, und nur ein einziges Land - Japan - zog sie öffentlich in Zweifel. Die Note behielt jedoch als Erklärung der politischen Ziele Amerikas im Fernen Osten bleibende Bedeutung.

Im Jahre 1900 brach in China der gegen die Fremdherrschaft gerichtete Boxeraufstand aus, in dessen Verlauf (Juni 1900) Aufständische die Stadt Peking in ihre Gewalt brachten und die dortigen auswärtigen Gesandtschaften belagerten. Das führte Hay dazu, die europäischen Mächte davon in Kenntnis zu setzen, dass die Vereinigten Staaten gegen jede Störung chinesischer Herrschafts- und Verwaltungsrechte und die Nichtachtung des Grundsatzes der „Offenen Tür" einschreiten würden, und es scheint auch teilweise seinem Einfluss zuzuschreiben zu sein, dass die auswärtigen Mächte unangemessene Entschädigungsansprüche an China herabsetzten.

Inzwischen hatten die Präsidentschaftswahlen des Jahres 1900 dem amerikanischen Volk Gelegenheit gegeben, seinem Urteil über die Regierung McKinley und insbesondere über ihre Aussenpolitik Ausdruck zu geben. Die Republikaner konnten den erfolgreichen Krieg mit Spanien, die Rückkehr der Konjunktur und die von der „Politik der Offenen Tür" zu erwartenden neuen Absatzmärkte auf ihr politisches Konto buchen und gaben dem auf ihrer Parteiversammlung in Philadelphia stürmisch Ausdruck. Dass ihr Präsidentschaftskandidat McKinley (mit Theodore Roosevelt als Vizepräsidenten) wiedergewählt würde, stand von Anfang an fest. Der Präsident konnte sich jedoch seines Sieges nicht allzulange freuen, denn im September 1901 fiel er bei der Besichtigung einer Ausstellung in Buffalo im Staate New York der Kugel eines Attentäters zum Opfer. Dies brachte Theodore Roosevelt auf den Präsidentensessel.

Roosevelts Amtsantritt fiel in der Innen- wie in der Aussenpolitik mit einer neuen Epoche im politischen Leben Amerikas zusammen. Um die Jahrhundertwende konnte das Land auf drei Generationen ununterbrochenen Fortschritts zurückblicken; der gesamte Kontinent war besiedelt und die Kolonisationsgrenze verschwunden; aus einer kleinen, von allen Seiten bedrohten und um ihre Existenz ringenden Republik waren die Vereinigten Staaten zu einer Grossmacht emporgewachsen; ihr staatliches Gefüge hatte die Wechselfälle eines Bürgerkrieges, mehrerer Kriege mit dem Ausland und die Schwankungen der Konjunktur und ihrer Krisenwellen überdauert; in der Landwirtschaft wie in der Industrie war Grosses geleistet worden; das hohe Ideal eines kostenlosen staatlichen Erziehungswesens war in Erfüllung gegangen, die Presse war frei geblieben und die Religions-freiheit gewahrt worden. Trotzdem fanden viele tieferblickende Amerikaner keinen Grund zu Stolz und Selbstzufriedenheit über die soziale, wirtschaftliche und politische Situation; sie sahen vor allem das Grossunternehmertum in einer festeren Stellung als je zuvor, sie sahen die Gemeinde- und Stadtverwaltungen häufig in den Händen korrupter Politiker und gaben sich darüber Rechenschaft, dass eine Sucht nach materiellem Gewinn alle Schichten der Gesellschaft ergriffen hatte.

Der Protest, der sich nun von vielen Seiten gegen diese Misstände erhob, hat der amerikanischen Politik und dem amerikanischen Denken etwa vom Jahre 1890 bis zu Beginn des ersten Weltkrieges einen besonderen Stempel aufgedrückt. Eine Reihe ähnlicher Proteste waren vorausgegangen. Von den ersten Tagen der industriellen Revolution an hatten die Farmer mit den Städten und den emporgekommenen Industriemagnaten im Kampf gelegen, und bereits in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts war heftige Kritik an dem vorherrschenden Patronatssystem geübt worden, unter dem Politiker nach ihrer Wahl einträgliche Regierungsämter an ihre Anhänger verteilten. Nach dreissigjährigem Ringen führten diese Reformbestrebungen im Jahre 1883 zum Erlass des „Pendleton-Gesetzes über den Staatsdienst" (Civil Service Bill), das die Anstellung im Regierungsdienst von einem Befähigungsnachweis abhängig machte und damit weiteren politischen Reformen das Tor öffnete. Auch die Industriearbeiter hatten ihre Stimme gegen verschiedene Ungerechtigkeiten erhoben und sich zum Schutze ihrer Interessen im Bunde der „Ritter der Arbeit" (Knights of Labor) ihre erste Organisation geschaffen. Die Mitgliederzahl des 1869 gegründeten Bundes stieg mit aufsehenerregender Geschwindigkeit bis Mitte der achtziger Jahre auf insgesamt 700 000 Arbeiter an, doch die Organisation fiel bald wieder auseinander, und an ihre Stelle trat wenig später der Amerikanische Gewerkschaftsverband AFL (American Federation of Labor), ein mächtiger Zusammenschluss von Facharbeiterverbänden, der vorwiegend die Interessen der gelernten Arbeiter vertrat. Um die Jahrhundertwende war die Gewerkschaftsbewegung in Amerika zu einer Macht geworden, mit der jeder Politiker zu rechnen hatte.

Die von dem Agrarstaat des 18. Jahrhunderts ererbten Methoden und Grundsätze hatten sich als unzulänglich für die industrielle, städtisch bestimmte Gesellschaftsordnung des 20. Jahrhunderts erwiesen. Dass das Maschinenzeitalter in Amerika an seinem Anfang so viel Verwirrung hervorbrachte, hatte sich vor allem daraus ergeben, dass die Gesellschaft sich mehr und mehr komplizierte, dass ihre Teile miteinander zunehmend in ein noch nicht recht verstandenes Wechselwirkungsverhältnis traten und dass der Wille des Menschen zu persönlicher Verantwortlichkeit von den gewaltigen Kapitalgesellschaften erstickt wurde. Diese Situation rief eine Reihe von jungen Schriftstellern auf den Plan, die nach sozialen Reformen riefen; Zeitungen und volkstümliche Zeitschriften unternahmen den ersten Vorstoss, Romanschriftsteller griffen das Thema auf, und alsbald gaben tatkräftige politische Reformer - unter ihnen auch der neue Präsident der USA - ihrem Kreuzzug eine Wendung zum Praktischen.

Der Höhepunkt der Reformbestrebungen fiel in die Periode von 1902 bis 1908; die Anfänge der Gesellschaftskritik reichen jedoch weiter zurück: schon 1873 z.B. hatte Mark Twain in The Gilded Age (Zeit aus Falschgold) einige Schattenseiten des amerikanischen Gesellschaftslebens gegeisselt. Nun griffen drei Zeitschriften - McClure's Magazine, Everybody's Magazine und Collier's Magazine - mit schneidender Schärfe Trusts, Finanzunternehmen, Nahrungsmittelfälscher und Eisenbahngesellschaften an. Upton Sinclair verstand es, die literarische Form des Romans als gesellschaftskritische Waffe zu verwenden; sein Werk The Jungle (Der Sumpf) enthüllte den Mangel an Sauberkeit, der in den grossen Schlachthäusern von Chicago herrschte, und deckte auf, wie weitgehend der Rindfleischtrust die Fleischversorgung des ganzen Landes in seinen Fängen hielt. Theodore Dreisers Romane The Financier und The Titan zeichneten ein unerbittlich realistisches Bild des Grossunternehmertums, Frank Norris gab in seinem Roman The Octopus (Der Polyp) Aufklärung über die Hintergründe der landwirtschaftlichen Krise, während Lincoln Steffens in seinem The Shame of the Cities (Die Schande der Städte) die politische Korruption anprangerte. Ihre gesellschaftskritische Literatur (literature of exposure) trug entscheidend dazu bei, das Volk zum Handeln zu bewegen.

Die nachhaltige Wirkung aber, die diese kompromisslosen Schriftsteller erzielten, und der zunehmende Druck der öffentlichen Meinung spornten die führenden Politiker zu praktischen Massnahmen an. Verschiedene Einzelstaaten erliessen Gesetze, die auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung hinzielten, und in den ersten fünfzehn Jahren des 20. Jahrhunderts wurden insgesamt mehr Gesetze sozialen Charakters verabschiedet als in der gesamten amerikanischen Geschichte zuvor. Die bestehenden Gesetze über die Kinderarbeit wurden verschärft und durch neue ergänzt, die Nachtarbeit von Kindern wurde weitgehend beschränkt, die Altersgrenze hinaufgesetzt, die Arbeitszeit verkürzt und der Schulbesuch zur Pflicht gemacht. Inzwischen hatten auch die meisten Grosstädte und über die Hälfte aller Einzelstaaten den Achtstundentag für alle mit öffentlichen Vorhaben verbundenen Arbeiten eingeführt; auch die Arbeitszeit für berufsgefährdete Arbeiter wurde gesetzlich geregelt; kaum weniger wichtig war die Gesetzgebung zur Invalidenversicherung, die die Haftpflicht der Arbeitgeber für alle Schädigungen, die ihre Arbeiter bei der Arbeit erlitten, gesetzlich festlegte. Neue Steuergesetze zogen Erbschaften, Einkommen und Besitz bezw. Gewinne der verschiedenen Gesellschaften zur Besteuerung heran, um die Verwaltungskosten den zahlungskräftigeren Kreisen aufzubürden.

So bewundernswert diese Schritte auch im einzelnen waren, so bestand doch Klarheit darüber, dass die meisten der von den Reformpolitikern angepackten Probleme nur durch den Bund gelöst werden konnten. Dies erkannte auch der selbst leidenschaftlich für soziale Reformen eintretende Präsident Theodore Roosevelt. Er war Realpolitiker, glühender Nationalist und treues Parteimitglied der Republikaner in einer Person, nach Thomas Jefferson der vielseitigste aller amerikanischen Präsidenten: er war Grossviehzüchter und Gouverneur eines Einzelstaats gewesen, hatte Grosswild gejagt und Bücher geschrieben, war im Staatsparlament von New York tätig gewesen und hatte die Polizei der Stadt New York geleitet, die amerikanische Kriegsmarine reorganisiert und am Feldzug in Kuba teilgenommen. Er las alles, was ihm unter die Hände kam, und hatte auch über alles eine eigene Meinung; gleich Andrew Jackson besass er die Gabe, das Vertrauen des Volkes zu gewinnen und die breiten Massen für seine politischen Kämpfe zu interessieren. Er bewies in Jahresfrist, dass er die sich in Amerika vollziehenden grossen Wandlungen verstanden hatte, und war entschlossen, dem amerikanischen Volk eine „ehrliche Behandlung" (Square Deal) zu bieten.

Obwohl Roosevelt seinen Überzeugungen nach nicht zur Gruppe derer gehörte, die eine Zerstörung der Trusts verlangten, zog er doch das Trust-Problem durch einige aufsehenerregende Gerichtsverfahren in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses. Auch die Erweiterung der Aufsichtsbefugnisse des Bundes über die Eisenbahngesellschaften fiel in seine Amtsperiode und war eine seiner bemerkenswertesten Leistungen. Zur Regelung des Eisenbahnwesens, das er selbst als das „Kernproblem" bezeichnete, wurden zwei wichtige Gesetze verabschiedet. Das „Elkins-Gesetz" von 1903 zwang die Gesellschaften zur Veröffentlichung ihrer Tariflisten und machte die Kunden der Eisenbahngesellschaften ebenso für die Einhaltung der Ermässigungsbestimmungen verantwortlich wie die Gesellschaften selbst. Es gelang der Regierung in der Folgezeit, die Übertretung dieser Bestimmungen seitens mehrerer Gesellschaften strafrechtlich zu verfolgen.

So war Theodore Roosevelt bereits im Jahre 1904 zum Abgott der Republikaner geworden. Seine eindrucksvolle Persönlichkeit und seine von hohem sittlichem Ernst getragenen Reden erwarben ihm die Sympathien des kleinen Mannes; ja, fortschrittliche Demokraten fühlten sich sogar mehr zu ihm als zu dem Kandidaten ihrer eigenen Partei hingezogen, und die ausserordentliche Hochkonjunktur, die im Lande herrschte, trug ein Übriges zum Wahlsieg der Republikanischen Partei im Jahre 1904 bei. Der Präsident sah in seinem überwältigenden Wahlerfolg eine Bestätigung seiner Politik und trat seine Amtsperiode mit dem festen Vorsatz an, sich an der Ausführung seiner Reformen in keiner Weise hindern zu lassen. Seine erste Botschaft an den Kongress, in der er eine strengere Überwachung der Eisenbahnen forderte, führte im Juni 1906 zur Verabschiedung des „Hepburn-Gesetzes", das der Interstate Commerce Commission (Binnenverkehrskommission) - deren Zuständigkeit ausgedehnt wurde - die Macht gab, die Frachttarife wirksam zu regeln, und die Eisenbahngesellschaften zwang, ihre enge Verflechtung mit Schiffahrtsgesellschaften und Kohlengruben aufzugeben. Gegen Ende der zweiten Amtszeit Roosevelts gab es praktisch keine „Sondertarife" mehr, und die Regelung des Eisenbahnwesens durch die Bundesregierung hatte sich für alle Zukunft eingebürgert.

Andere Massnahmen des Kongresses dehnten die Überwachung durch den Bund noch auf weitere Gebiete aus. Im Jahre 1906 wurde eine alte Forderung der Reformbewegung erfüllt und ein „Gesetz über die Reinheit von Lebensmitteln" erlassen, das die Verwendung aller „schädlichen Drogen, Chemikalien oder Konservierungsmittel" bei der Herstellung von Arzneien und Nahrungsmitteln untersagte, und kurz danach gab ein weiteres Gesetz der Bundesregierung die Überwachung aller Geschäftsunternehmen, die Fleisch im Binnenhandel vertrieben, an die Hand.

Eines der grössten Verdienste der Regierung Roosevelts war zweifellos ihr Wirken für die Erhaltung der natürlichen Hilfsquellen und Bodenschätze des Landes. Dem Raubbau und der Vergeudung von Rohstoffen musste Halt geboten werden, und weite, als wertlos geltende Landstriche bedurften nur einer entsprechenden Behandlung, um zu Ackerland zu werden. Während alle seine Vorgänger zusammen nur neunzehn Millionen Hektar Waldland unter Schutz gestellt hatten, vergrösserte Roosevelt diese Fläche um weitere sechzig Millionen Hektar und sorgte für systematische Brandverhütungsmassnahmen und für die Aufforstung von Kahlschlägen. Im Jahre 1901 setzte er eine „Kommission für die Binnengewässer" ein, der die Probleme der gegenseitigen Abhängigkeit von Wasserwegen, Bodenkonservierung und Forstwirtschaft sowie Energiegewinnung und Schiffahrt zum Studium übertragen wurden. Die Empfehlungen dieser Kommission gipfelten in einem Plan zu einer „Amerikanischen Naturschutzkonferenz", und noch im gleichen Jahre lud Roosevelt die Gouverneure sämtlicher Einzelstaaten, die Mitglieder des Kabinetts und andere namhafte Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Erziehungswesen zu einer solchen Konferenz ein. Es gelang der Konferenz, das Interesse der Öffentlichkeit auf das Problem der Bodenkonservierung zu lenken; sie proklamierte eine Reihe von Grundsätzen, in denen sie nicht nur auf die Notwendigkeit der Erhaltung der Forsten, sondern auch auf den Schutz der Wasserkräfte und Bodenschätze sowie auf die Probleme der Erosion und Bewässerung hinwies, und empfahl ferner, dass Vorschriften über den Holzeinschlag auf Privatbesitz, die Regulierung der schiffbaren Flüsse und Konservierungsmassnahmen im Gebiet der Wasserscheiden erlassen würden. Ihr Werk führte zur Einsetzung zahlreicher „Naturschutzkommissionen" durch die einzelnen Staaten und im Jahre 1909 zur Bildung des „Amerikanischen Naturschutzverbandes" (National Conservation Association), der sich die Aufklärung der breiten Öffentlichkeit über diese Fragen zum Ziele setzte. Ein „Wiederurbarmachungsgesetz", das der Regierung das Recht zum Bau von Staudämmen und Staubecken gab, war schon 1902 erlassen worden; es dauerte nicht lange, und grosse Strecken ausgedörrten Bodens trugen wieder eine Pflanzendecke und konnten unter den Pflug genommen werden.

Als der Wahlfeldzug des Jahres 1908 näherrückte, befand sich Roosevelt auf dem Gipfel seiner Popularität; da er jedoch die Tradition nicht durchbrechen wollte, die bisher die Regierung eines Präsidenten auf höchstens zwei Amtsperioden beschränkt hatte, unterstützte er William Howard Taft, der dann auch zum Präsidenten gewählt wurde. Taft versuchte, das Programm Roosevelts weiterzuführen, und setzte einige Verbesserungen durch: er setzte die Strafverfolgung der Trusts fort, stärkte den Einfluss der Binnenhandelskommission, richtete eine Postsparbank und einen Paketpostdienst ein, vergrösserte den Beamtenstab und regte die Aufnahme von zwei weiteren Verfassungszusätzen an. Der 16. Verfassungszusatz ermächtigte die Bundesregierung zur Erhebung einer Einkommensteuer; der 17. Verfassungszusatz - 1913 ratifiziert - beseitigte das bisherige Verfahren, Senatoren durch die Staatsparlamente wählen zu lassen, und liess die direkte Wahl durch das Volk an seine Stelle treten. Tafts positive Leistungen wurden jedoch dadurch beeinträchtigt, dass er eine Schutzzollvorlage billigte, die von den Liberalen abgelehnt wurde, dass er sich der Aufnahme Arizonas in den Bund widersetzte, weil es eine weitgehend liberale Verfassung besass, und schliesslich, dass er sich immer mehr auf den extrem konservativen Flügel seiner Partei stützte.

Das spaltete Tafts Partei, und im Jahre 1910 gab ein überwältigender Wahlsieg den Demokraten die Mehrheit im Kongress zurück. Für die Präsidentenwahl von 1912 liess sich Woodrow Wilson, der Gouverneur des Staates New Jersey, als demokratischer Gegenkandidat gegen den Republikaner Taft aufstellen; Roosevelt, den die Landestagung der Republikanischen Partei als Kandidaten abgelehnt hatte, organisierte eine dritte Partei, die Fortschrittspartei (Progressive Party), und bewarb sich als ihr Führer erneut um die Präsidentschaft. Nach einem lebhaften Wahlfeldzug gelang es Wilson, beide Rivalen aus dem Felde zu schlagen; sein Wahlsieg bedeutete einen Triumph des Liberalismus, denn er empfand es als seine unabänderliche Pflicht, die Demokratische Partei ein für allemal auf ein Reformprogramm festzulegen. Unter seiner Führung ging der neue Kongress daran, eine Reihe von Gesetzen zu beraten, die in Anlage und Bedeutung zu den bemerkenswertesten der gesamten amerikanischen Geschichte gehörten. Die erste Aufgabe bestand in einer Revision der Zollgesetzgebung: „Die Zölle müssen geändert werden", hatte Wilson dem Kongress erklärt, „wir müssen alles abschaffen, was einem Vorrecht auch nur ähnlich sieht." Das „Underwood-Zollgesetz", das er am 3. Oktober 1913 unterzeichnete, brachte erhebliche Zollsenkungen für wichtige Rohstoffe und Lebensmittel, für Baumwoll- und Wollwaren, Stahl, Eisen und andere Güter und hob die Zölle für über hundert Warengruppen überhaupt auf. Obwohl dem Gesetz immer noch zahlreiche Kennzeichen der Schutzzollpolitik anhafteten, stellte es doch einen ernstgemeinten Versuch dar, die Lebenshaltungskosten zu senken.

Als nächstes nahmen die Demokraten, in Erfüllung ihres Programms, die Reorganisation des Bank- und Münzwesens in Angriff. Das Land hatte lange Jahre hindurch unter einem Mangel an Elastizität im Kredit- und Münzwesen gelitten; Notmassnahmen hatten zwar die Nationalbanken ermächtigt, Notgeld in Umlauf zu setzen, aber die gründliche Überholung des gesamten Bankwesens war doch nicht mehr zu umgehen. Es war Wilsons Überzeugung, dass „die Kontrolle nicht privat, sondern öffentlich sein und von der Regierung selbst ausgehen müsse, damit die Banken dem Geschäftsleben wirklich dienen und sich nicht zu Herren über den Unternehmer und seine Initiative aufschwingen könnten." Das „Bundesgesetz über die Kapitalreserven" (Federal Reserve Act) vom 23. Dezember 1913 wurde diesen Forderungen gerecht. Die bereits bestehenden Banken wurden neu organisiert und zu diesem Zweck das ganze Land in zwölf Distrikte mit je einer Federal Reserve Bank untergeteilt, bei denen die dem System angeschlossenen Banken ihre Bargeldreserven hinterlegen sollten und die in erster Linie als „Banken für andere Banken" gedacht waren. So wurde es möglich, die in ihnen deponierten Reserven einzusetzen, wenn eine vorübergehende Bargeldverknappung eine einzelne Bank in Schwierigkeiten brachte und eine Unterstützung notwendig machte. Die Federal Reserve Banks dienten ferner dazu, die Flüssigkeit des Geldumlaufs sicherzustellen, denn das Gesetz ermächtigte sie zur Ausgabe von Banknoten für den Bedarf der Wirtschaft. Ein Direktorium, der Federal Reserve Board, sollte die Durchführung des gesamten Planes überwachen.

Für die nächste wichtige Aufgabe, die Überwachung der Trusts, legte die Erfahrung ein ähnliches Kontrollsystem nahe, wie es durch die Binnenhandelskommission für die Eisenbahngesellschaften geschaffen worden war. Infolgedessen wurde die Befugnis zur Untersuchung von Gesetzesübertretungen durch derartige Gesellschaften an eine neugeschaffene „Bundeshandelskommission" (Federal Trade Commission) übertragen, die auch ermächtigt wurde, jeden unlauteren Wettbewerb von Konzernen im die Grenzen der Einzelstaaten übersteigenden Binnenhandel zu unterbinden. Ein zweites Gesetz, der Clayton Antitrust Act, machte zahlreiche, bisher nicht ausdrücklich verbotene Geschäftsmethoden der Gesellschaften strafbar, beispielsweise die Verflechtung von Direktorenposten, die Vorzugsbehandlung einzelner Kunden bei der Preisfestsetzung und die Beteiligung von Gesellschaften an Unternehmen in verwandten Branchen.

Auch Industriearbeiter und Farmer wurden in die Gesetzgebung miteinbezogen. Das „Gesetz über Bundesdarlehen an Farmer" gewährte Landwirten eine neue Kreditmöglichkeit bei niedrigen Zinssätzen; eine Bestimmung des „Clayton Antitrust-Gesetzes" verbot den Arbeitgebern, die Gerichte dazu zu benutzen, Streiks niederzuschlagen; das „Gesetz über die Seeleute" von 1915 sorgte für die Hebung der Lebens- und Arbeitsbedingungen des Personals der Hochsee- und Binnenschiffahrt; der Federal Workingman's Compensation Act von 1916 sprach Angestellten der Bundesregierung Renten für Gesundheitsschäden zu, die sie sich während der Arbeit zugezogen hatten, und das „Adamson-Gesetz" desselben Jahres führte den Achtstundentag für alle bei Eisenbahngesellschaften Beschäftigten ein.

In der von solchen Reformen erfüllten Amtszeit Wilsons machte auch der Kampf für das Frauenwahlrecht rasche Fortschritte. Seit Ende der sechziger Jahre, d.h., seit der Zuerkennung des Wahlrechtes an die befreiten Sklaven, die einen mächtigen Ansporn für die Frauen bedeutet hatte, waren ihre Forderungen immer dringender geworden. Ein ganzes Menschenalter hindurch hatte der aktivere Flügel der Frauenbewegung unter Führung so fähiger Persönlichkeiten wie Elizabeth Cady Stanton und Susan B. Anthony - später waren Anne Howard Shaw und Carrie Chapman Catt hinzugekommen - ihre Sache mit einleuchtenden Argumenten vertreten und trotzdem nur enttäuschend geringe Ergebnisse erzielt. Erst zu Beginn der neunziger Jahre gaben einige Staaten im Westen unter dem Einfluss des mit der Populistenbewegung eingezogenen Reformwillens den Frauen das Wahlrecht, und in der sich anschliessenden „Periode des Fortschritts" folgten einige andere Staaten ihrem Beispiel. 1916 machte sich schliesslich der republikanische Präsidentschaftskandidat Charles Evans Hughes (wie auch der ehemalige Präsident Theodore Roosevelt) zum Fürsprecher dieser Idee, und Präsident Wilson, der dem Suffragettenwesen bis dahin ablehnend gegenübergestanden hatte, äusserte sich nun gleichfalls, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, zugunsten des Frauenstimmrechts. Mit dem Kriegseintritt Amerikas hatten die amerikanischen Frauen Gelegenheit, ihren Wert für die Nation unter Beweis zu stellen: das gab den Frauenrechtlerinnen neue Hoffnung; sie entfalteten eine regere Werbetätigkeit als je zuvor, veranstalteten Umzüge, paradierten vor dem Weissen Haus und führten sogar Hungerstreiks durch. Im September 1918, am Vorabend wichtiger Kongresswahlen, forderte Wilson vor dem Kongress die Ausdehnung des Wahlrechtes auf alle Frauen des Landes als „entscheidend für die siegreiche Beendigung des Krieges". Der diese Forderung erfüllende 19. Zusatzartikel zur Verfassung wurde den Staaten im Juni 1919 übermittelt, und schon im Sommer 1920 war er ratifiziert. Bei den Präsidentschaftswahlen im November dieses Jahres gaben erstmalig auch die Frauen in den gesamten Vereinigten Staaten ihre Stimme ab.

Es war der politische Wille des Volkes, der in dieser langen Liste von Reformen Gestalt gewonnen hatte, und es war Präsident Wilson zu danken, dass er so zum Ausdruck kam. Wilson war eine der aussergewöhnlichsten Persönlichkeiten in den Annalen der amerikanischen Präsidentschaft, denn er war ohne jene Robustheit, die nun einmal für Erfolge im rauhen Spiel des politischen Wettbewerbs unentbehrlich zu sein schien, im tiefsten Grunde ein Gelehrter und Staatsphilosoph, und seine Publikationen auf dem Gebiet der amerikanischen Politischen Wissenschaft (Political Science) wurden als bemerkenswerte Beiträge zum tieferen Verständnis des gesamten Feldes empfunden. Wilson betrachtete die Welt mit dem kühlen, leidenschaftslosen Blick des Wissenschaftlers, der gewohnt ist, den wechselnden Ereignissen des Tages auf den Grund zu gehen und sie in die grösseren prinzipiellen Zusammenhänge einzuordnen, und das Vertrauen des Volkes in ihn gründete mehr in der Gewissheit, dass Wilson in der Kompromisslosigkeit seines Denkens über den Gegensätzen des Augenblicks stand, als in bloss persönlichen Gefühlen für seine menschlichen Eigenschaften, wie sie seinen engeren Kreis in tiefer Freundschaft an ihn banden.

Doch weder seine wissenschaftlichen Leistungen noch seine Arbeit als Sozialreformer haben Wilsons Anspruch auf einen Platz in der Geschichte begründet: ein eigentümliches Schicksal hat ihm die Rolle des Kriegspräsidenten aufgezwungen und ihn vor allem andern zum Schöpfer jenes Friedens gemacht, der voll Unrast auf den ersten Weltkrieg folgte. Die mächtigen Kräfte, die während Wilsons zweiter Amtszeit frei wurden, sollten das amerikanische Volk in seinem innersten Wesen beeinflussen, denn nun, zum ersten Male in seiner Geschichte, war es vor die Verantwortung und die Gefahren gestellt, die eine Weltmachtstellung mit sich bringt.